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„Bis dass der Tod uns scheide – meine Psyche und mich“ -Enzensberger

Von Cora Kunkler

Die Türe geht auf, wusch! Noch sehe ich zwar niemanden, aber das was ich wahrnehme, reicht für den ersten Eindruck. Es stinkt. Und das Erste, was ich denke, ist: „Hoffentlich bleibt der Geruch nicht an mir“. Ich unterdrücke schnell den Drang, meine Nase zu rümpfen, schließlich bin ich hier Gast, und werde durch die nächste Türe begleitet. „Schlüsselmacht“ nennt man das hier, ohne Schlüssel – nix los. Gerade erst an den Gestank gewöhnt, prasseln die nächsten Eindrücke nur so auf mich nieder. Sabbernde Menschen. Schreiende Menschen. Trampelnde Menschen. Schnell laufe ich weiter und versuche niemanden anzustarren. Die Wände sind gelb, eher vergilbt, das Licht ist weiß, die Atmosphäre jedoch eher dunkel, sogar beinahe ernst. Ein langer Gang mit unendlich vielen Türen, hinter denen sich die verschiedensten Arten des Wahnsinns verbergen, erstreckt sich vor mir. Durch eine dieser Türen soll ich nun gehen. Die Grenze zwischen meinem Leben und dem kompletten Wahnsinn beschränkt sich nun also auf eine Türe. Ein kleines, dünnes Stück Holz, das man, ehe man sich versieht, aus eigener Kraft und aus eigenem Willen reflexartig öffnet.
Alkoholkonsum. Eine so alltägliche Sache und für die Jugend von heute teilweise der einzige Wochenendinhalt führte diesen Mann vor mir hier her. Er spricht kein einziges Wort und wenn er reagiert, dann nur, weil man ihm gerade die Hand streichelt oder auf die Brust klopft. Wie ein anfahrender Motor klingt das Geräusch, das nun aus seinem Mund kommt. Er lacht. Neben einem verschluckten Schreien, das eher wie ein Grummeln klingt, die einzige Art von Kommunikation, die er noch beherrscht. Dass dieser Mann zu den liebevollsten und „normalsten“ Menschen unter diesem Dach gehört, hätte ich in diesem Moment wohl niemandem geglaubt. Doch der Beweis lässt nicht lange auf sich warten. Wieder zurück auf dem Krankenhausähnlichen Gang bin ich es, die beobachtet wird. Sie ist klein, zierlich, sabbert – Überraschung – aber hat eine solche Aggressivität in ihrem Blick, dass man nicht anders kann als Angst zu bekommen. Obwohl man ihr körperlich und offensichtlich auch geistig überlegen wäre, spannt sich jeder einzelne Muskel an, wenn sie an einem vorbei läuft. Hoffend darauf, dass sie einen ja nicht anspricht, gar anfasst. Zu meiner Erleichterung wird mir daraufhin erklärt, dass sie Körperkontakt grundsätzlich meidet. Diese Erleichterung wandelt sich jedoch in etwas Trauerndes, Mitfühlendes um, als ich den Grund für dieses Verhalten erfahre. Missbrauch. Damals als kleines Mädchen genötigt und verletzt – mehr als nur körperlich – erkennt sie heute, als erwachsene Frau, den Unterschied zwischen damals und heute nicht mehr. Ihre Persönlichkeit ist mehr als nur einmal gespalten, vielleicht auch gespalten worden. Und obwohl einen das bedrückende Gefühl in ihrer Gegenwart nie ganz los lässt, fängt man an sie zu verstehen. Die Angst, die ihr innewohnt, erzeugt sie nicht selbst, genauso wenig wie die Abscheu sich selbst gegenüber. Die Gefangenschaft des eigenen Wesens, in einem Körper, den sie verachtet, wird durch tausende Stimmen geprägt. Die eine schreit, eine andere lacht. Die nächste verharmlost und eine weitere bricht in sich selbst zusammen. Die Suche nach der richtigen Stimme, die Stimme der Realität, ist vergleichbar mit der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Während sich manches Heu unter die Fingernägel bohrt, verschnürt einem des Weiteren der Heustaub beinahe die Kehle. Da ist es nicht selten, dass man die Suche nach der Nadel aufgibt und sich lieber mit der frischen Luft begnügt. Doch die Suche nach der Nadel aufzugeben, bedeutet auch das Akzeptieren des Stimmenwirrwarrs in einem. Die Art Wahn, der dadurch hervorgerufen wird, und die damit verbundenen Wahnvorstellungen, scheinen dem Betroffenen meist völlig real. Es ist für sie oftmals nicht mehr nötig, als ein Blick, eine Geste, ein Geruch oder etwas so Penibles wie eine Zahl, um in einen Verfolgungswahn zu verfallen und somit auch in ihre eigene, heimliche Welt. Während sie von ihren Sinneswahrnehmungen so überzeugt sind und standhaft an deren Wahrhaftigkeit glauben, werden sie meist genau deswegen als „dumm“, „gefährlich“ und „unberechenbar“ bezeichnet. Keiner versteht sie, warum sie so sind, wie sie sind, und in Wahrheit können das auch die Wenigsten. Für Außenstehende ist es sehr schwer einsehbar, was einen solchen Menschen bewegt, was ihn antreibt oder was aus ihm das macht bzw. gemacht hat, was er ist. Dass die Betroffenen manchmal sogar gar nicht selbst der Auslöser sind, bleibt für viele unbekannt. Bereits im Mutterleib können Infektionen die neuronalen Reifungsprozesse des Gehirns stören, worauf es im Verlauf des Lebens nur eines Auslösers bedarf, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen. Eine Krone, geformt aus Dopamin, die für den Betroffenen unmöglich abzusetzen ist. Was allen bekannt unter „Glückshormon“ ist, macht es für diesen Menschen also unmöglich, geistig gesund und glücklich zu sein. Schließlich definieren wir Glück auch ein Stück weit durch Gesundheit. Doch unser Dopamingehalt und somit auch - könnte man meinen - unser Glück, ist vergänglich. Es baut sich in einem normal funktionierenden Gehirn nach gewisser Zeit einfach wieder ab und wir merken nichts davon. Hingegen ist der Abbauprozess in dem Gehirn eines Schizophrenen gehindert, gar unmöglich. Allerdings heißt das nun lange nicht, dass dieser Mensch jede Sekunde seines restlichen Lebens von Glücksgefühlen geprägt ist, ganz im Gegenteil. Es bedeutet für ihn oftmals die Hölle. Über zehn Prozent der Betroffenen halten den Kampf um den eigenen Willen nicht länger aus und setzen ihrem Leben, insofern sie das noch als solches bezeichnen, lieber ein Ende.
Keine Stimme gegen tausende von Stimmen. Alkoholkonsum gegen Missbrauch. Der Mensch ist gar unfähig sich zwischen zwei solchen Extremen entscheiden zu müssen. Was ist Schlimmer oder - noch schwieriger - mit was käme ich persönlich besser zurecht? Der Stimme auf ewig beraubt worden sein und somit keine Integrationsmöglichkeit ins soziale Umfeld mehr zu haben oder mehr als nur eine Stimme zu besitzen, aber doch niemals verstanden zu werden? Zwei so unterschiedliche Schicksale, die am Tagesende aber beide im Gleichen enden. Einsamkeit. Doch wer ersehnt sie schon – die große Einsamkeit?

Cora Kunkler, E-1
2013
Fr, 08.11.2024
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Realschule Aufnahmegespräche für Klasse 5